K. Utz Tremp: Von der Häresie zur Hexerei

Cover
Titel
Von der Häresie zur Hexerei. «Wirkliche» und imaginäre Sekten im Spätmittelalter


Autor(en)
Utz Tremp, Kathrin
Reihe
Monumenta Germaniae Historica Schriften 59
Erschienen
Hannover 2008: Verlag Hahnsche Buchhandlung
Anzahl Seiten
703 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Paul Oberholzer

Die Hexenverfolgungen haben ihre Ursprünge in den Ketzerprozessen des Spätmittelalters, ja sie sind ohne die vorausgehende Inquisition gar nicht denkbar – auch wenn die meisten Hexenjagden in der frühen Neuzeit von weltlichen Gerichten durchgeführt wurden. So die Grundthese von Kathrin Utz Tremp, die im vorliegenden Werk die Ergebnisse einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den neuesten Forschungsergebnissen zu Inquisition und heterodoxen Glaubensrichtungen des Spätmittelalters und mit archivalischen Quellen zu Ketzer- und Hexenverfolgungen in der Westschweiz entfaltet. Es ist unbestritten, dass die Geständnisse vom Bund mit dem Teufel und nächtlich veranstaltetem Hexensabbat rein imaginärer Natur sind und in der gesellschaftlichen Realität des Spätmittelalters keine Entsprechung hatten. Die Aufmerksamkeit der Autorin in diesem Werk gilt darum der Frage, wie die fiktive Hexensekte ihren Ursprung in wirklichen heterodoxen Glaubensrichtungen haben kann. Solche hat es zu besagter Zeit in ganz Europa gegeben. Über deren Lehre und Organisation sind wir aber fast ausschliesslich durch gegnerische Quellen informiert.

In einem ersten Teil (48–310) präsentiert die Autorin den Forschungsstand zu den wirklichen spätmittelalterlichen Sekten, konkret der Katharer und Waldenser, also jener Bewegungen, deren Anhänger tatsächlich durch institutionelle Elemente verbunden waren. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit die Inquisitoren durch gezielte Fragestellungen ein von ihren Zielen geleitetes Bild von Aufbau und Lehre einer Gegenkirche provozierten und damit der wirklichen Sekte imaginäre Züge verliehen. Denn damit zementierten sie in der Wirkungsgeschichte der «Häresien» wegen des Fehlens von Selbstzeugnissen ihrer Anhänger ein von der Realität abweichendes Bild. Von dort ist es ein kleiner Schritt, dass eine geistliche Lehre, die keinen Niederschlag in einer konkreten Institution, sprich Sekte, fand, den Überbau einer organisierten Gegenkirche gewann, indem den Verhörten durch einen gezielt zusammengestellten Fragekatalog ein entsprechendes Geständnis abgerungen wurde; so bei der Sekte vom Freien Geist, deren Mitgliedschaft Beginen und Begarden verdächtigt wurden. Den imaginären Sekten ist der zweite Teil (311–623) gewidmet, der neben der soeben Genannten die Sekte der Luziferianer und Hexen beschreibt. Beide waren sowohl in Lehre als auch Organisation rein fiktiv. Hexer und Hexen wurden von den Glaubenswächtern verfolgt, weil man die Magie, die in der einfachen Bevölkerung eine alte Tradition hatte, als teuflisch erklärte und als Apostasie verurteilte. Der Unterschied zur Häresie bestand nur noch darin, dass Häretiker erst als Rückfällige dem weltlichen Arm übergeben wurden, während auf den Bund mit dem Teufel die Todesstrafe stand. In den beiden letzten Kapiteln des zweiten Teils (441–623) stellt die Autorin ihre archivalischen Studien vor und zeichnet in einer minutiösen Auswertung zahlreicher Prozessakten nach, wie sich dabei Waldenser- und Hexenverfolgungen in der Westschweiz langsam ablösten. Jedes Kapitel schliesst mit einer bündigen Zusammenfassung. In einem Rückblick (641–669) wird resümiert, wie wirkliche und imaginäre Sekten vom 13. bis 15. Jahrhundert verzahnt nebeneinander existierten.

Ein wichtiges Element des historischen Schaffens von Kathrin Utz Tremp liegt in der exakten Auswertung der Fragekataloge und der von den Inquisitoren abgefassten Geständnisse. Genaue Wiedergabe, Einbeziehung des Umfeldes und Vergleich mit anderen Aussagen erlauben letztlich ein Vordringen zur singulären Persönlichkeit des «Häretikers». Die Quellennähe hilft dabei, zu vermeiden, dass die Zeugnisse vorschnell in das Prokrustesbett heutiger, apriorischer Deutungsmuster gezwängt werden.

Kathrin Utz Tremp schreibt in erster Linie nicht eine Geschichte der Ketzerei, sondern von deren Verfolgung. Wohl ist jedes einzelne Kapitel, d.h. die Darstellung von Verfolgung und Ausrottung einer häretischen Strömung, in sich schlüssig und kann als Ausschnitt gelesen werden. Durch das ganze Buch zieht sich aber als roter Faden die Suche nach Anklagepunkten, die in der Zeit vom 13. bis 15. Jahrhundert zu Wesensmerkmalen einer imaginären Hexensekte mutierten und durch die Aufnahme in Verhörkataloge aus Befragten unter der Folter wieder als Geständnisse herausgepresst wurden. Diese Anklagepunkte konnten teilweise tatsächlich in einer ursprünglichen Form eine reale Sekte geprägt haben, teilweise waren sie aber schon immer Destillate einer apriorischen Verhörpraxis. Um diesen subtilen Prozess zu erfassen, in dem im Laufe von zwei Jahrhunderten über mehrere Ketzerahndungen und Interaktionen teils entfernter, teils benachbarter inquisitorischer Jurisdiktionen sowie über die selektive Auswertung und Weiterentwicklung überlieferter Häresiebilder eine rein imaginäre Sekte entstand, muss das Buch vollständig gelesen werden. Ihre Genese war nicht von langer Hand geplant, die Autorin kann sie aber genau nachzeichnen. Diese facettenreiche Darstellung macht das Einzigartige und völlig Neue des vorliegenden Werkes aus.

Ein wichtiges Element, das der Entstehung imaginärer Sekten oder imaginärer Züge von realen Sekten den Weg bahnte, war die Heimlichkeit, in die die Verfolgung Katharismus und Waldensertum drängte. Denn deswegen empfingen die sesshaften, unauffälligen Anhänger die getarnt wandernden Prediger bzw. Perfekten meist nachts in ihren Häusern, woraus sich das Bild von der geheimen, nächtlichen Versammlung entwickelte, der Urform des Hexensabbat. Ungenaue Kenntnisse von den katharischen Ritualen – dem Consolamentum, der Initiation, dem Melioramentum, einem Ehrerweis gegenüber den Perfekten, der in den Akten der Inquisition als Adoratio bezeichnet wurde, der Convenenza, dem Gelöbnis, in der Todesstunde das Consolamentum zu empfangen, und dem Genuss eines fingergrossen Stücks geweihten Brotes – öffneten freien Interpretationen Tür und Tor. Da Häretiker tatsächlich mit einem Absolutheitsanspruch auftraten, wurden sie als Anführer einer Gegenkirche gebrandmarkt, woraus letztlich die Gefolgschaft Satans wurde. In den Anfängen wirkende weibliche waldensische Prediger sind Ausgangspunkt des Argwohns sexueller Promiskuität während der Versammlungen. Ob diese tatsächlich stattfanden oder nur die Ausgeburt männlicher Phantasien waren, ist für die Autorin sekundär. Denn die Vorstellung endete im Hexensabbat, auf dem gemäss Geständnissen unter Folter Frauen und Männer unnatürlichen Geschlechtsverkehr übten, und die Frauen mit dem Teufel schliefen.

Im ausgehenden 14. Jahrhundert brachten Verhöre im Piemont ein waldensisch, katharisch-dualistisches und magisch-hexerisches Gemisch hervor. Utz Tremp ortet darin einen wichtigen Schmelztiegel für die Ausgestaltung der imaginären Hexensekte. Über einen kurzen Zeitraum können hier Denunziationen, also Aussenansichten, einerseits und Verhöre gleicher Personen durch verschiedene Inquisitoren andererseits ausgewertet werden. Während erstere von einem undifferenzierten Synkretismus berichten, zeigt sich bei letzteren, wie Geständnisse durch die Anwendung der Folter immer skurrilere Züge entsprechend den Anklagen annahmen, während dieselben Verhörten früher mit ganz anderen Aussagen als harmlose Waldenseranhänger laufengelassen worden waren. Basierend auf diesem eindeutigen Befund sieht Utz Tremp ihre Hauptthesen bestätigt, dass nämlich die Inquisition den Verhörten vorauseilte, also Glaubensdelikte sowie Sekten suchte und fand, die gar nicht existierten. Die Geständnisse nahmen mit verstärkter Anwendung der Folter und mit der Errichtung einer stehenden Inquisition, die sich eines über Jahrzehnte angelegten Archivs bedienen konnte, an Dramatik zu. In diesem Piemonteser Fall brauchte der Inquisitor das Zeugnis einer skandalösen Apostasie mit diabolischen Praktiken, die seine Existenz legitimierten, da er von Amtskollegen und vom weltlichen Arm bedrängt wurde und sich auch von Seiten der Bevölkerung einem wachsenden Widerstand ausgesetzt sah. Charakteristisch für diesen Prozess ist die Suche nach katharisch-dualistischen Elementen unter den Mitgliedern der real existierenden Waldensersekte, die inzwischen zumindest in der Aussenwahrnehmung die Züge einer heilsexklusiven Gegenkirche angenommen hatte. Der Prozess hätte ein Einzelfall bleiben können. Aber ihre Ergebnisse haben im savoyischen Herrschaftsraum Verbreitung und um 1430 Eingang in die «Errores gazariorum», den wichtigsten Hexentraktat, gefunden – in einem Gebiet, das in dieser Zeit vom «gelobten Land» der Häresie zum «gelobten Land» der Hexerei wurde.

Ein bemerkenswertes Scharnier ist auch, dass im Sprachgebrauch des Volkes in der französischen Schweiz und in Savoyen seit der Wende vom 14./15. Jahrhundert «vaudois» sowohl für Waldenser als auch für Hexer verwendet wurde, was die Inquisition übernommen hat – folgenschwer für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts, als deutschsprachige Fribourger vor französischsprachigen Inquisitoren in vier Prozesswellen abwechselnd als Waldenser und Hexen verhört wurden. Die Autorin erläutert engehend den letzten Waldenserprozess in dieser Stadt von 1430. Ausgangspunkt könnte die Angst vor der tatsächlichen Aggressivität der realen Sekte der Hussiten gewesen sein, mit denen die in der Stadt lebenden Waldenser verwechselt wurden. Interessant ist, dass die Regeln des traditionellen, summarischen Ketzerprozesses zur Anwendung kamen, während die geahndeten Verbrechen weniger mit Waldenserei zu tun hatten als aus dem Repertoire der Magie entnommen waren. 1437 bis 1442 wurden dann unter völlig anderen Umständen 19 Hexer und Hexen hingerichtet. Dem Gericht standen keine Inquisitoren mehr vor, sondern Stadtväter, geahndet wurde Zauberei. Zur Anwendung gelangten die Regeln des Hexenprozesses: Eine Frau, die 1430 noch dank eines Reinigungseides freigesprochen wurde, bestieg nun den Scheiterhaufen, aber nicht wegen Rückfälligkeit, was auf ein inquisitorisches Verfahren schliessen liesse, sondern wegen Anrufung von Dämonen, was einem Pakt mit dem Teufel gleichkam. Im Unterschied zum Prozess von 1430 richtete sich diese Hexenjagd allein gegen die Landbevölkerung. Sie war damit auch ein Instrument, mit dem die Stadt ihre Herrschaft in den Umlanden festigte.

Zitierweise:
Paul Oberholzer: Rezension zu: Kathrin Utz Tremp, Von der Häresie zur Hexerei. «Wirkliche» und imaginäre Sekten im Spätmittelalter (=Monumenta Germaniae Historica Schriften, Bd. 59), Hannover, Hahnsche Buchhandlung, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 311-313.